( aus "Welt am Sonntag" vom 15. Mai 2011, Autor: Silvia Meixner, Link zur Quelle)

Früher war die Amsel ein Waldvogel, jetzt zwitschert sie zwischen Hochhäusern. Weil viele Vögel auf dem Land keine geeigneten Nistplätze mehr finden, kommen sie in die Stadt.

Großstadtvögel haben dieselben Sorgen wie wir Menschen: Diätprobleme, Stress wegen des Lärms der Autos und zusätzlich irritieren die nächtlichen Lichter ihren Lebensrhythmus. Genervte Menschen ziehen irgendwann aufs Land. Doch den Vögeln hilft so ein Umzug nicht, denn auf dem Land geht es ihnen nicht viel besser. Es gibt immer weniger Felder, auf denen sie Würmer finden und immer weniger Hecken, in denen sie ihr Nest bauen können. Wer als fliegendes Wesen schlau ist, bleibt deshalb in der Stadt.

 

"Die Großstadt ist ein gutes Pflaster für Vögel", sagt Klaus Witt, die graue Eminenz der Berliner Ornithologen. Der 73-Jährige ist ein "Orni", er hat vor 20 Jahren die "Berliner Ornithologische Arbeitsgemeinschaft" mit gegründet. Er kennt die großen und kleinen Probleme der Vögel genau, seit Kindheitstagen beschäftigt er sich in seiner Freizeit mit ihnen. Warum auch bei Vögeln der Trend zum Stadtleben herrscht, erklärt er so: "Wenn ein Vogel kein großes Gebiet braucht, ist die Stadt ideal für ihn. Die Amsel war zum Beispiel vor hundert Jahren ein reiner Waldvogel."

Heute zwitschert sie vergnügt in den Städten. Auch die Habichte sind in den vergangenen Jahren zu Stadtvögeln geworden. "In Berlin gibt es zum Beispiel 90 Brutpaare im Stadtgebiet. Es ist ein erstaunlicher Fall von Anpassung. Das Hauptbeutetier des Habichts ist die Straßentaube", sagt Klaus Witt. Allein im Tiergarten nisten drei Brutpaare. Auch in anderen Regionen Deutschlands ist der Trend zur Großstadt zu beobachten.

"Auf dem Land geht es den Vögeln derzeit schlechter als in den Städten", sagt der Ornithologe. "Die Agrarlandschaft ist hinsichtlich der 'Roten Listen' stark in der Kritik. Die Umstellung der Landwirte auf Energiepflanzen wie Mais, Raps oder Gerste hat nämlich dazu geführt, dass Gebüschränder beseitigt wurden, die Felder verändern sich strukturell. Die Vögel finden keine Nistplätze mehr. Sie loten aus, ob eine Landschaft nützlich für sie ist, wenn nicht, fliegen sie weiter." Und landen dann in der Stadt. Braunkehlchen, Wiesenpieper und Feldlerchen leiden derzeit besonders. So suchen die Vögel etwa gerne Streuobstwiesen auf, aber auch davon gibt es immer weniger.

Der Physiker im Ruhestand gehört zu jenen Menschen, die fleißig und ehrenamtlich etwas tun, was auf den ersten Blick ein wenig merkwürdig klingt: Er zählt Vogelbestände. Und dank seiner jahrzehntelangen Erfahrung zieht er die richtigen Schlüsse daraus, nachdem er die Sorgen der Vögel erkannt und analysiert hat. Da wäre etwa die Versorgungslage. Weil das Nahrungsangebot in den Städten stimmt, werden schon die lieben Kleinen im Nest gemästet, kaum dass sie geschlüpft sind. Das kann fürchterliche Folgen haben, denn es kommt immer öfter vor, dass kleine Vögel beim ersten Flugversuch statt elegant gen Himmel zu schweben ziemlich unelegant aus dem Nest plumpsen und das Opfer von Raubvögeln oder Katzen werden.

Schaffen die Vögelchen den ersten Flugunterricht, droht das nächste Problem. Großstädte sind Orte der Reizüberflutung. Baut ein Vogel sein Nest zufällig in der Nähe einer Lichtquelle wie einem Reklameschild oder einer grellen Laterne, wird sein Biorhythmus kräftig durcheinandergebracht. Und wenn Nachtschwärmer die Nachtigall um Mitternacht hören, ist nicht der Alkohol schuld - es kann tatsächlich sein. Wissenschaftler der Freien Universität Berlin untersuchten das Singverhalten der Großstadt-Nachtigall und die Ergebnisse belegen die Vermutung. "Im Frühling müssen sie den Verkehrslärm übertönen, um einen Partner zu finden. Manchmal fangen sie eine Stunde vor Sonnenaufgang zu singen an. Und wenn sie im Licht einer Neonreklame um Mitternacht singen, haben sie das falsch verstanden, weil sie glauben, die Dämmerung gehe los", sagt Klaus Witt. Ist das Thema Liebe erledigt, werden die Nachtigallen, zum Juni hin, dann wieder leiser. Ein weiteres Problem ist, dass "early birds", irritiert von den Lichtreizen, noch früher aufstehen.

Der Stundenplan der Singvögel sieht so aus: Die Nachtigall singt als Erste, gefolgt von Rotkehlchen, Hausrotschwanz, Amsel, Gartenrotschwanz und Singdrossel. Ein wenig später stimmen Meisen, Grün- und Buchfinken, später auch Kohl- und Blaumeisen ein. Doch wenn es stürmt und regnet, ist es in den Bäumen leiser, denn dann haben die Vögel keine Lust zum Singen und bleiben im Nest.

Leises Zwitschern, so wie es die Menschen gerne mögen? Diese Zeiten sind lange vorbei. Wer sich als Vogel gegen die Konkurrenz und den Lärm der Menschen behaupten will, muss laut werden. Ansonsten hört ihn die Angebetete nicht und der Spatz von nebenan respektiert das hart erkämpfte Revier nicht. Das darf nicht sein, Gesetz der Natur. Wenn es Ihnen also zuweilen so vorkommt, als brüllten die Vögel - es stimmt. Für den, der davon früh geweckt wird, ist das keine gute Nachricht. Die bessere: Es geht nur noch ein paar Wochen so. Wenn die Vogel-Paare sich gefunden haben, beginnt die Aufzucht des Nachwuchses und danach wird nur noch laut gezwitschert, wenn sich ein Rivale nähert.

Leider gar nicht gut geht es den deutschen Straßentauben, deren Bestand bundesweit zurückgeht. Wer keine Tauben mag und ihren Kot fürchtet, für den ist das vielleicht eine gute Nachricht, die Zahlen allerdings erschrecken Tierfreunde: Innerhalb der vergangenen 30 Jahre wurde der Bestand auf 35 Prozent dezimiert. "In Berlin gibt es höchstens noch 20 000 Straßentauben. Die Menschen haben in den vergangenen Jahren Kirchtürme vergittert, Fenster verschlossen, die Brutnischen für die Tauben wurden deutlich reduziert."

Und auch in anderen deutschen Städten nimmt ihre Zahl ab. Noch schlimmer sind die aktuellen Entwicklungen bei den Türkentauben, die wegen ihres hübschen Aussehens bei den Menschen beliebter sind als die Straßentauben: "Hier stellen wir einen dramatischen Rückgang fest", sagt Witt. "Allein in Berlin gibt es nur noch zwei Prozent des Maximalbestandes Anfang der 80er-Jahre, damals gab es 10 000."

Erklären können sich die Experten das derzeit nicht. "Die Türkentaube wurde in Deutschland im Jahr 1949 zum ersten Mal von Ornithologen beobachtet, sie breitete sich vom Balkan Richtung Westeuropa aus. Ihr Bestand ist überall dramatisch zurückgegangen, auch in Schweden und England. In Potsdam gab es bei der letzten Zählung keine mehr, die Stadt ist also türkentaubenfrei. Erstaunlicherweise gibt es einen guten Bestand in den Berliner Hochhausgebieten Marzahn und Hellersdorf, wir Ornithologen können uns nicht erklären, warum das so ist." Türkentauben werden bis zu 22 Jahre alt. Möglicherweise liegt ein Nahrungsproblem vor oder eine natürliche Schwankung, die schuld daran ist, dass bestimmte Vogelarten jahrzehntelang häufig vorkommen, dann eine Zeit lang weniger werden, um schließlich wieder in großer Zahl auftauchen.

Die Welt der Vögel ist voller Rätsel und Geheimnisse, vieles ist noch unerforscht. "Genau hin- und nachgucken ist eine unserer Hauptaufgaben", sagt Witt. Leider gibt es nicht genügend Nachwuchs, vor allem in den Städten werden Menschen gesucht, die gern in der Natur sind und Vögel zählen möchten. "Aber vermutlich sitzen die jungen Leute lieber am Computer." Doch auch dort kann man hören, wie sich Vogelstimmen anhören und unter www.vogelstimmen.de lernen, sie auseinanderzuhalten.

Auf der Internetseite findet man Tausende Links zu Aufnahmen verschiedener Vogelstimmen und kann so herausfinden, welcher Vogel am Morgen so laut gezwitschert hat. Am häufigsten lauschen die Benutzer dem Ruf der Nachtigall, wie die Hitliste verrät.

Aber live sind die Stimmen dann doch schöner und außerdem hat die Vogelkunde auch amüsante Seiten. Wenn Klaus Witt durch Berlin streift, hat er immer ein Fernglas dabei. Das gefällt nicht jedem. "Ich wurde schon mehrfach wüst beschimpft", sagt er. Man hält Ornithologen nämlich gern für dreiste Spanner oder unverschämte Einbrecher, die scheinbar unauffällig die Lage sondieren. Dann lässt der Vogelexperte die Beschimpfungen über sich ergehen und erklärt anschließend seinen Auftrag. Wenn die Leute nämlich hören, was der Fremde mit dem Fernglas macht, atmen sie auf: Vögel zählen, das klingt wirklich harmlos. So harmlos, dass es schon wieder verdächtig ist. Aber Herr Witt kontrolliert mit seinen Kollegen vielleicht gerade den Bestand von Mauerseglern, Tauben oder Amseln. Eine ehrenvolle Tätigkeit. Und eine ehrenamtliche, über die wir anderen, die Nicht-Ornithologen, so gut wie niemals nachdenken.